Prof. Dr. Ulrich Wagner, Sozialpsychologe an der Universität Marburg und Initiator eines offenen Briefes an die Bundekanzlerin und die parlamentarischen Vertretungen des Bundes und der Länder, im Interview mit der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.
Frage: Herr Prof. Wagner, Sie haben gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialpsychologie einen offenen Brief an die Bundekanzlerin und die parlamentarischen Vertretungen des Bundes und der Länder verfasst, mit dem Sie auf mögliche Probleme im Umgang mit der Flucht nach Deutschland hinweisen. Was sind denn aus Ihrer – sozialpsychologischen – Sicht heraus die Probleme, denen sich die Regierung aktuell stellen sollte?
Prof. Wagner: Gegenwärtig ist Hilfsbereitschaft Geflüchteten gegenüber in Deutschland sehr eindrucksvoll. Gleichzeitig gibt es ein großes Maß an Unsicherheit darüber, was im Zusammenhang mit der Flucht nach Deutschland und Europa gerade geschieht und wie die Situation zu bewerten ist. Das heißt, viele Menschen sind in ihrer Haltung ambivalent und suchen nach Erklärungen. Sie versuchen, ihre Gefühle Geflüchteten gegenüber zu ordnen. Sozialpsychologinnen und -psychologen wissen, dass Menschen unter solchen Bedingungen sehr sensibel sind für kleine Hinweise, die ihnen eine Interpretation erlauben. Eine sehr wichtige Quelle für solche Informationen sind politische Meinungsführer. Unsere Sorge ist, dass auf politischer Seite unterschätzt wird, wie prekär die gegenwärtige Situation ist, und – bedacht oder unbedacht – Bewertungen der gegenwärtigen Fluchtsituation vorgenommen werden, die die Stimmung in Deutschland zum Kippen bringen könnten. Gefragt sind jetzt klare und glaubwürdige politische Antworten in Sachfragen und das Aufzeigen von humanitären Lösungswegen.
Frage: Viele Menschen zeigen gerade eine unglaublich hohe Hilfsbereitschaft und heißen die Flüchtlinge in Deutschland aktiv Willkommen. Auf der anderen Seite gibt es Vorurteile und offene Zurückweisung. Wodurch werden diese unterschiedlichen Reaktionen beeinflusst?
Prof. Wagner: Unterstützung auf der einen Seite und Zurückweisung, Diskriminierung und Gewalt auf der anderen sind wesentlich von Emotionen beeinflusst. Die vielen Helfenden erleben offensichtlich Mitleid und Empathie: Sie können sich in die Lage der Geflüchteten versetzen und empfinden mit ihnen. Vorurteile und Ablehnung sind Folgen von Angst oder gar Hass. Dabei gehen diese unterschiedlichen Gefühle häufig nicht auf direkte, persönliche Erfahrungen zurück, sondern sind durch Berichte von Meinungsführern und Medien vermittelt. Die Gefahr besteht, dass leichte Veränderungen im politischen Klima und in der Medienberichterstattung in Bezug auf die Haltung in der Bevölkerung zu Geflüchteten zu große – negative – Veränderungen herbeiführen könnten.
Frage: Wie könnte die Regierung denn in dieser akuten Notlage handeln, um den Problemen entgegenzuwirken?
Prof. Wagner: Die Sozialpsychologie verfügt über einen empirisch gut abgesicherten Fundus von Wissen darüber, wie destruktiv verlaufende Konflikte zwischen Gruppen, hier Einheimischen und Geflüchteten, entstehen. Ein wichtiger, empirisch vielfältig belegter Einflussfaktor ist, ob die beteiligten Gruppen den Eindruck haben, sich gegenseitig etwas streitig zu machen.
Unsere Empfehlung an die Politik ist daher: Die Aufnahme von Flüchtlingen sollte möglichst wenige Einschränkungen für die einheimische Bevölkerung mit sich bringen. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sehr reiches Land. Bei entsprechendem politischem Willen ist es möglich, Geflüchtete aufzunehmen, ohne auf Dauer Sporthallen oder Fußballplätze belegen zu müssen. Viel zu wenig werden außerdem die Vorteile diskutiert, die Einwanderung für die Bundesrepublik mit sich bringt: so könnte sich durch eine sinnvolle Integration der Zuwandernden auf den deutschen Arbeitsmarkt unter Umständen auch der Fachkräftemangel in manchen Berufen reduzieren und die Infrastruktur erhalten lassen, wie in ländlichen Regionen die Grundschule am Ort und der Kindergarten.
Ein zweiter, in der Sozialpsychologie sehr gut belegter Befund ist, dass besonders solche Menschen auf Flüchtlinge mit Misstrauen und Ablehnung reagieren, die keine Erfahrung mit „Fremden“ haben. Wir wissen durch viele Studien: Kontakt hilft, Vorurteile zu reduzieren. Durchgängig, seit es seit 1989 zuverlässige Umfragen gibt, zeigt sich ein größeres Maß an Ablehnung gegenüber Einwanderung im Osten Deutschlands als im Westen. Wir können nachwiesen, dass das damit zusammen hängt, dass im Osten Deutschlands historisch bedingt weniger Menschen mit Migrationshintergrund leben als im Westen und dass das den Menschen im Osten die Möglichkeit nimmt, Kontakterfahrungen mit Fremden zu machen und so ihre Vorurteile in Frage zu stellen. Dasselbe gilt für viele ländliche Regionen. Eine Empfehlung aus der Sozialpsychologie an die Politik ist, Kontakte zu ermöglichen. Das bedeutet: Vermehrt Unterbringung von Geflüchteten im Osten Deutschlands und in ländlichen Regionen, kleine Einheiten, die Kontakte zwischen Einheimischen und Geflüchteten möglich machen, aktive Aufnahme von Geflüchteten in die lokalen Infrastrukturen, wie Kindergärten, Schulen und Sportvereine und eine lokale Ansiedlungspolitik, die eine Ghettobildung vermeidet.
Das Interview führte Dr. Anne Klostermann, DGPs.
Den offenen Brief an die Bundeskanzlerin finden Sie hier: https://www.uni-marburg.de/fb04/team-wagner/aktuelles
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Prof. Dr. Ulrich Wagner
Philipps Universität Marburg
Fachbereich Psychologie
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